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04.06.09 –
Die Briten wollen ihren Politikern einen Denkzettel für den Spesenskandal verpassen. Und die Franzosen sehen in dem Votum die Chance, ihrem Präsidenten Nicolas Sarkozy ein Zeugnis für die erste Hälfte seiner Amtszeit auszustellen.
Wer so denkt, verschenkt seine Stimme. Denn die Direktwahl von Europas Volksvertretung ist keine symbolische Veranstaltung. Ihr Ausgang wirkt sich sehr direkt auf den Alltag der Wähler aus. Das Europaparlament hat inzwischen mehr Macht als der Bundestag und entscheidet ganz wesentlich mit über die politische Ausrichtung der Gemeinschaft. Bei Wirtschaftsfragen etwa kommen heute bis zu 80 Prozent der Gesetze, die in Deutschland gelten, von der EU.
Tritt der Reformvertrag von Lissabon zum Jahresende in Kraft, wird der Einfluss der Abgeordneten noch einmal deutlich zunehmen. Europa erhält wichtige zusätzliche Zuständigkeiten in der Innen- und Justizpolitik. Und vom Ausgang der Europawahl hängt auch ab, ob der konservative Kommissionspräsident José Manuel Barroso eine Mehrheit für eine zweite Amtszeit erhält.
Für die Financial Times Deutschland zählt die Europawahl daher zu einem der wichtigen politischen Termine des Jahres. Für unsere Wahlempfehlung haben wir besonderen Wert auf die Positionen der Parteien in zentralen europäischen Wirtschaftsthemen gelegt sowie darauf, welche Haltung sie in der Frage neuer Gemeinschaftskompetenzen in der Einwanderungs- und Asylpolitik einnehmen. Eine wichtige Frage war für uns auch, wie offen die Parteien für einen EU-Beitritt der Türkei sind.
Bedauerlich ist, dass die Programme der Volksparteien CDU und SPD in Teilen so banal sind wie die Werbeslogans auf ihren Kampagnenplakaten. Wer etwa seine Wahlentscheidung davon abhängig macht, wie die Parteien eine Reform der Finanzaufsicht in der EU angehen wollen, braucht sich bei Sozial- und Christdemokraten nicht zu erkundigen. Er wird dort mit Worthülsen und Allgemeinplätzen eingelullt.
Die Sozialdemokraten sind nicht einmal in der Lage, sich auf einen konkreten Gegenkandidaten zu Barroso zu einigen. Mal verspricht die SPD dem Kommissionschef, ihn wiederzuwählen. Mal droht sie ihm mit Sturz. Die wichtigste Forderung der Sozialdemokraten lautet: Hebelt Europas Binnenmarkt- und Wettbewerbsregeln aus, wenn sie unsozial sind. Setzt sich die SPD mit dieser Position durch, würde der Binnenmarkt als Motor der Integration ausfallen.
Die Union hingegen steht hinter ihrem Parteifreund Barroso und dessen marktfreundlicher Gesinnung. CDU und CSU stellen das Gros der deutschen Parlamentarier, darunter viele kompetente Fachpolitiker. Das Problem ist nur: Viele von ihnen lassen sich durch Industrielobbyisten für Sonderinteressen einspannen.
Auf die Frage, wie die Europäer ihre Wirtschaftspolitik in der Krise besser koordinieren können, haben beide Parteien keinerlei Antworten. CDU und CSU disqualifizieren sich zudem durch ihren Widerstand gegen eine Vollmitgliedschaft der Türkei, bei dem sie auch vor populistischen Parolen nicht haltmachen.
Die Liberalen haben ein klares marktwirtschaftliches Profil. Sie wenden sich gegen alle Versuche, den Binnenmarkt und das Wettbewerbsprinzip zu schwächen. In der Innen- und Justizpolitik will die FDP darüber wachen, dass neue EU-Kompetenzen keine Bürgerrechte aushebeln. In der Türkeifrage laviert die Partei jedoch ebenfalls. Spitzenkandidatin Silvana Koch-Mehrin hat es mit ihren publikumswirksamen Auftritten zwar zu einiger Bekanntheit gebracht. Viel Substanz vermittelt sie aber nicht.
Überraschend und erfrischend konkret sind bei dieser Wahl die Grünen. Sie haben nicht nur das längste, sondern auch das ausgefeilteste Programm. Sie geben sich bei Europas zentralen Zukunftsthemen als marktfreundlicher Innovationsmotor. So plädiert die Partei zum Beispiel dafür, bei grenzübergreifend tätigen Banken das nationale Aufsichtswesen durch eine echte europäische Finanzaufsicht zu ersetzen.
Darüber hinaus fordern die Grünen eine Aufwertung der Euro-Finanzminister zu einer Art Wirtschaftsregierung, um in der EU endlich makroökonomische Grundsatzbeschlüsse fassen zu können. Zudem setzt sich die Partei für einen grünen "New Deal" ein. Der sieht vor, dass über ehrgeizige Klimaschutzvorgaben ein Konjunkturprogramm für ökologische Zukunftstechnologien aufgelegt wird. Die Grünen sind für einen Türkeibeitritt, pochen aber auf strengere Auslegung und Einhaltung der Demokratie- und Menschenrechtskriterien.
Natürlich finden sich im Wahlprogramm auch Forderungen, die naiv oder fragwürdig anmuten - wie der Atomausstieg in Europa. Käme es dazu, wäre Frankreich praktisch komplett ohne Stromversorgung. Und auch die pazifistische Grundhaltung in der Sicherheitspolitik hält der politischen Realität nicht stand. Das Beruhigende: Mit diesen Positionen kommen die Grünen in Europa ohnehin nicht weit.
Wer mit seiner Stimme also sinnvolle Veränderungen vorantreiben will, kann sein Kreuzchen diesmal bei den Grünen machen. Sie sind die einzige Partei, die wirklich Ideen für Europa mitbringt - und sie könnten die Rolle des Antreibers übernehmen. Hinzu kommt: Eine stärkere Präsenz der Grünen im EU-Parlament wirkt der Verfilzung entgegen, die das Machtkartell von Bürgerlichen und Sozialdemokraten über die Jahre geschaffen hat.
Das ist uns diesmal einen Vertrauenvorschuss wert.
www.ftd.de/meinung/kommentare/:FTD-Wahlempfehlung-Europawahl-Warum-nicht-gr%FCn/522360.html
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